Abstracts

Deutsche Plurale im mentalen Lexikon. Experimentelle Untersuchungen zum Verhältnis von Speicherung und Dekomposition

Die Erforschung der Architektur und Funktionsweise des mentalen Lexikons und damit die Erforschung der Verarbeitung und Repräsentation morphologisch komplexer Wörter ist in den letzten Jahren zunehmend in den Mittelpunkt psycholinguistischen Interesses gerückt. Ein zentrales Thema ist dabei die Frage, ob und in welchem Ausmaß morphologische Dekompositionsprozesse an der Erkennung eines komplexen Wortes beteiligt sind. Dieser Frage widmet sich auch die vorliegende Arbeit. Im Anschluß an die Vorstellung einiger methodischer Grundlagen zur Worterkennungsforschung werden aktuelle Worterkennungsmodelle beschrieben und vor dem Hintergrund diverser empirischer Forschungsergebnisse diskutiert. Dabei zeigt sich, daß Wortverarbeitungsmodelle, die von einem einheitlichen Verarbeitungsmechanismus für alle komplexen Wörter ausgehen, der empirischen Evidenz zur Wortverarbeitung nicht gerecht werden: Modelle, die Vollformrepräsentationen für alle komplexen Wörter annehmen, können nicht die Ergebnisse erklären, die auf getrennte lexikalische Repräsentationen für Stämme und Affixe hindeuten. Dagegen können Modelle, die von einer obligatorischen Dekomposition aller komplexen Wörter ausgehen, nicht die Befunde erklären, die auf eine Vollformverarbeitung komplexer Formen hindeuten. Eine dritte Gruppe von Lexikonmodellen sieht deshalb sowohl Dekomposition als auch Vollformspeicherung vor. Zur Gruppe dieser Modelle mit zwei Verarbeitungswegen gehört auch das u.a. von Pinker und Prince (1994), Marcus et al. (1995) und Clahsen (1999) für das deutsche und das englische Flexionssystem entwickelte Duale Modell. Dieses Modell nimmt linguistisch begründete Kriterien an, von denen die Verarbeitung einer flektierten Wortform abhängt: Reguläre, per Default flektierte Wortformen werden danach morphologisch dekomponiert, während irreguläre Formen als Vollformen in assoziativen Netzen gespeichert sind. Daß dieser linguistische Ansatz zu einem befriedigenden Modell des mentalen Lexikons führen kann, wird durch die Darstellung konvergierender Evidenz aus zahlreichen Studien belegt. Wegen seiner zahlreichen Allomorphe und Subregularitäten stellt das deutsche nominale Pluralsystem für dieses Modell allerdings eine besondere Herausforderung dar. Der eigene empirische Beitrag dieser Arbeit besteht deshalb darin, die Gültigkeit des Dualen Modells für das deutsche Pluralsystem experimentell zu überprüfen. Dazu wurden fünf Reaktionszeitexperimente (zwei visuelle lexikalische Entscheidungsaufgaben, in denen Wörter in Isolation präsentiert wurden, und drei modalitätsübergreifende Primingexperimente) durchgeführt. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde im abschließenden Teil dieser Arbeit ein erweitertes Duales Modell entwickelt, in dem einerseits die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Defaultformen (-s Pluralen) und irregulären Flexionsformen beibehalten, andererseits aber auch differenzierten empirischen Ergebnissen zu -n Pluralen Rechnung getragen wird. In diesem Modell kann durch die Annahme von zwei lexikalischen Verarbeitungsebenen zwischen Prozessen auf der Zugriffsebene, die zwischen dem konkreten Sprachsignal und der assoziierten lexikalischen Repräsentation vermitteln, und Prozessen im zentralen Lexikon unterschieden werden. Mit den beiden Mechanismen der morphologischen Dekomposition und des Vollformzugriffs kann so die Verarbeitung von drei grundsätzlich unterschiedlichen Flexionstypen, nämlich (i) regulärer Flexion per Default, (ii) klassenspezifisch regulärer und (iii) irregulärer Flexion beschrieben werden. Dieses erweiterte Duale Modelle ist nicht nur als Repräsentationsmodell, sondern auch als konkretes Verarbeitungsmodell ausgearbeitet worden. Es wird damit einerseits der Forderung zahlreicher Morphologen nach einer qualitativ begründeten Dreiteilung der Flexionsklassen gerecht, andererseits entspricht es auch psychologischen Anforderungen, indem es explizite Annahmen zur Repräsentation und Verarbeitung der drei unterschiedlichen Flexionsklassen macht.